Meine ersten Erfahrungen mit „Heidi“ habe ich – wohl wie so viele – mit der japanischen Version der pausbäckigen Animefigur gemacht. Und obwohl ich in meiner Kindheit so gut wie alle Kinderbuchklassiker verschlungen habe, hatte ich mich nie dazu durchringen können, die beiden Klassiker „Alice im Wunderland“ und „Heidi“ zu lesen. Schuld waren eine fürchterlich schrille und kreischende Alice auf einer Tonbandkasette und eine etwas einfältige „Anime-Heidi“.
Des Magazins erster Teil: Literatur
Insofern brach ich zunächst nicht in Jubelstürme aus, als ich sah, dass die neue Ausgabe des bei den Lead Awards 2014 zum „Newcomer des Jahres“ ausgezeichneten „Das Buch als Magazin“ sich der Heidi-Erzählung annimmt und ärgerte mich umso mehr, dass ich die Ausgaben mit „Die Verwandlung“ von Franz Kafka und „Woyzeck“ von Georg Büchner verpasst hatte. Doch das Format reizte mich: „Vorne Literatur, hinten Journalismus“. Also machte ich mich ans Lesen und war mehr als überwältigt.
Es war mir bis dato – und darauf bin ich freilich nicht stolz – zu keinem Zeitpunkt klar, dass es nicht nur um die kleine Heidi geht, die letztlich von den Erwachsenen hin- und hergeschubst wird und die den kratzbürstigen Großvater in einen liebenswürdigen Kerl transformiert, sondern vielmehr dem alten Individualisten und Eremiten einen Zugang schafft, sich der Gesellschaft und Gott wieder zuzuwenden. Das biblische Motiv des verlorenen Sohnes habe ich vor der Lektüre zu keiner Zeit in „Heidi“ vermutet.
Die Randbemerkungen im Magazin verraten indes auch, dass Johanna Spyri, die Autorin von „Heidi“, die Erzählung womöglich sogar von einem 50 Jahre zuvor erschienenen Buch abgeschrieben haben könnte.
Des Magazins zweiter Teil: Journalismus
Was passiert aber im zweiten so wichtigen Teil des Magazins, hebt es sich doch damit von herkömmlichen Literaturausgaben ab? Da diskutiert eine zehnjährige mit einer siebenundvierzigjährigen Anke-Domscheit-Berg, ehemalige Politikerin der Piraten-Partei, die Rollenklischees in „Heidi“. Ein anderer Beitrag beschäftigt sich mit dem gleichzeitigen Sterben von Ehepaaren, wie es auch den Eltern von Heidi erging. Köstlich erheiternd sind die Kinderzeichnungen einer dritten Klasse, die für das Magazin aufgemalt haben, was ihre Großeltern am besten können und was sie von diesen gelernt haben (u.a.: Opa kann am besten entspannen und Oma kochen). Überraschend verstörend sind die zunächst so idyllisch wirkenden heimatlichen Alpen-Stickbilder der Künstlerin Nives Widauer, von denen eines das Titelbild ziert (und dieses ist noch das harmloseste). Witzig amüsant ist der Artikel über den Buben, der in Bayern lebt, aber kein Wort Bairisch spricht, ebenso wie Heidi in Frankfurt durch ihr Schweizerdeutsch „anders“ ist. Um dazuzugehören, lernt er Bairisch (ob es klappt, verrate ich nicht). Auf Heidis Situation spielt der Beitrag über Verdingkinder, verkaufte Waisenkinder in der Schweiz und anderen Teilen Europas an. Und natürlich darf ein Artikel über Kitsch nicht fehlen, der es dann tatsächlich auch schafft, diesen zu definieren (großartiger Tipp auch bzw. gerade für Erwachsene: „Pingu“-Serie schauen hilft über Kummer hinweg). Daneben finden sich noch viele weitere gute Beiträge, beispielsweise über Analphabetismus und eine reale Bilderbuchkindheit mit Wildschwein, die einen neidisch zurücklässt.
Wer Literatur liebt, dem sei dieses Magazin ans Herz gelegt. Die geniale Idee geht auf, wenn auch die Handlichkeit eines Magazins – das Format und das Gewicht des Heftes sprechen gegen ein Lesen außer Haus – fehlt. Die journalistischen Beiträge im zweiten Teil des Magazins schaffen, was mir unbewusst stets fehlte: diese schrecklich gähnende Leere, wenn ein gutes Buch zu Ende gelesen ist, zu füllen. Bis man auch dieses durchgelesen hat und sehnsüchtig auf die nächste Ausgabe wartet.
Bis dahin kann man sich auf dem Tumblr-Blog von „Das Buch als Magazin“ über Wasser halten oder auf Sprachschach weiterlesen, zum Beispiel: Rechtschreibung auf Facebook: Eure Arroganz törnt mich ab!