Jugendsprache wird verteufelt. Und zwar schon immer. Noch schlimmer ist es allerdings, wenn sich eine Jugendsprache mittels Einflüsse anderer Sprachen herausbildet, was jedoch fast immer der Fall ist. Auch das lässt sich jedoch noch toppen: Was, wenn eine Jugendsprache nicht nur von englischen Spracheinflüssen gezeichnet ist, sondern zum Beispiel auch türkische oder arabische Einflüsse aufweist? Das Geschrei in Deutschland wird groß, die Jugendsprache wird als Verschandelung des Deutschen angesehen, schon fürchtet man um einen allgemeinen Verfall der Sprache.
Lassma Kino gehn!
Ich spreche von Kiezdeutsch, wie Heike Wiese, Professorin für Deutsche Sprache der Gegenwart an der Universität in Potsdam, diese Jugendsprache taufte. Kiezdeutsch bringt uns neue Ausdrucksformen wie beispielsweise Lassma Kino gehen. Natürlich fand hier eine Verknappung des standardsprachlichen korrekten Aufforderungssatzes Lass uns doch einmal ins Kino gehen! statt, aber die Entschlüsselung des Inhalts fiel uns doch gerade nicht sonderlich schwer, oder? Und zwar weil wir bereits – obwohl wir nicht jugendliche Kiezsprecher sind – Systeme aus der Jugendsprache in unser eigenes Repertoire übernommen haben. Und das war nur möglich, weil die kiezdeutsche Grammatik systematisch und in vielen Fällen nutzbringend ist. Was ist also das Besondere an Sätzen wie Lassma Kino gehen oder Musstu gucken?
Aus zwei wird eins
In beiden Sätzen sind zwei vormals getrennte Wörter verschmolzen worden – eines der Elemente war jeweils das flektierende Verb. Also das Verb, das die Information über Person und Numerus trägt (im Gegensatz zum Infinitiv). Bei lassma und musstu handelt es sich mittlerweile um Partikel, also um eine Wortart, die sich nicht flektieren lässt. Die Entstehung von Partikeln aus ursprünglich flektierbaren Wörtern ist ein ganz natürlicher Prozess, im Übrigen momentan auch sichtbar an glaubich, das in der gesprochenen Sprache mittlerweile gleichbedeutend mit vielleicht und nicht sicher verwendet wird: Morgen regnet es glaubich.Wobei der Prozess noch in vollem Gange ist, weswegen glaubich noch nicht am Anfang des Satzes stehen kann. Auch unsere Höflichkeitsformel bitte geht auf denselben Prozess zurück, welches aus dem Verb bitten abgeleitet werden kann. Die Partikel trägt nicht mehr die Information 1. Person Singular und kann deswegen personenunabhängig verwendet werden. Ebenso ist dies bei musstu, was sich eigentlich explizit auf die 2. Person Singular bezieht, jedoch auch schon für müsst ihr eingesetzt werden kann.
MiassnS weiterlesn! Oder haddu keine Lust?
Zwar erscheint es uns zunächst etwas seltsam, dass es musstu heißt und nicht *dumusst, aber wer Bairisch spricht, kennt und benutzt die Verb-Erst-Stellung:
MiassnS fei scho zur Premiere kema!
Muasstu hoid an Babysitter organisiern!
Und wer nicht aus Bayern kommt, der kennt zumindest die Häschenwitze:
Häschen zum Bäcker: „Haddu Bienenstich?“ – Bäcker: „Ja.“ – Häschen: „Muddu Salbe drauf tun.“
Die Verb-Erst-Stellung resultiert aus informellem, gesprochenem Deutsch, um was es sich bei Kiezdeutsch handelt. Wiese geht davon aus, dass es sich bei diesen Verb-Erst-Sätzen um Sätze handelt, die „in Sprechakten zur Beschwichtigung oder Beruhigung eingesetzt“ werden.
Lassma ist nicht gleich lassma
Bei lassma wäre ein *malass oder vielleicht sogar *unslassma allerdings ziemlich albern. Die Form stammt von lass uns mal, bei welcher das Pronomen uns gänzlich getilgt worden ist. Obwohl das Pronomen der 1. Person Plural nicht mehr sichtbar ist, handelt es sich bei lassma um wir-Vorschläge. Zwar wurde uns getilgt, die Information ging jedoch nicht verloren. Das unterscheidet das kiezdeutsche lassma übrigens auch vom norddeutschen lassma. Ersteres richtet sich explizit an den Sprecher und eine oder weitere Personen (uns). Letzteres geht bloß auf lass und mal zurück und richtet sich lediglich an eine andere Person (du). Zur Veranschaulichung sollen folgende Beispiele dienen. Im ersten Beispiel handelt es sich um die kiezdeutsche, im darauffolgenden Beispiel um das norddeutsche lassma.
Lassma Kino gehen.
Lassma das Fenster offen.
Das norddeutschen lassma gleicht da eher dem kiezdeutschen musstu, beide richten sich an die 2. Person (du/ihr). Ein weiterer Unterschied liegt in der Bedeutung. Das Verb lassen hat im Kiezdeutschen ziemlich an Bedeutung verloren. Während es sich bei lassma das Fenster offen tatsächlich um das Fenster offen lassen handelt, liegt der Sinn bei lassma Kino gehen auf Kino gehen und nicht auf *Kino gehen lassen. „Wir haben hier also im Norddeutschen lediglich eine Zusammenziehung von zwei Wörtern, während in Kiezdeutsch etwas viel Interessanteres, Komplexeres passiert, nämlich die Entstehung einer funktionalen, pragmatisch spezialisierten Partikel“, schreibt Wiese. Doch darf spekuliert werden, ob nicht die lautliche Übereinstimmung der zwei Versionen die Verwendung von lassma– egal in welcher Variante – fördert. Das Phänomen lassma hat sich zumindest schon ziemlich ausgebreitet. Während der original kiezdeutsche Sprecher Lassma Kino gehn, Lan sagen würde, bevorzugt der Hamburger Lassma Kino gehen, Digga und der Münchner Lassma Kino gehen, Oida.
Bitte weiterlesen!
Auch das verkürzte ma spiegelt einen typischen Prozess im gesprochenen Deutsch wieder. Ma geht auf (ein)mal beziehungsweise ein Mal zurück, welche in der Funktion einer Modalpartikel genannt werden, wenn der Sprecher seine Aussage abschwächen oder Höflichkeit zum Ausdruck bringen möchte. Die Verkürzung der Modalpartikel finden wir nicht nur in Kiezdeutsch, sondern auch in der gesprochenen Umgangssprache.
Interessant ist auch, dass lassma und musstu jeweils ein Infinitiv folgt, also ein Verb in seiner Grundform. Und nun wird ersichtlich, was ich bereits zuvor geschrieben habe: Kiezdeutsche Grammatik entwickelt sich stark aus der typisch deutschen Grammatik heraus. Wiese schreibt: „Dieses Schema [Aufforderungspartikel + Infinitiv] passt wunderbar in das System des Deutschen, wo Aufforderungen oft durch Infinitivkonstruktionen ausgedrückt werden“:
Licht bei Verlassen ausschalten.
Schuhe in der Halle ausziehen.
Bitte das Spielfeld nicht betreten!
Die kiezdeutsche Grammatik bedient sich also nicht neuer Strukturen, sondern des Inventars der standarddeutschen Grammatik. Vor allem lassma ist deshalb auch außerhalb der kiezdeutschen Grenzen verbreitet. Es könnte sogar sein, dass lassma und musstu in mehreren Jahren ebenso wie bitte als „normal“ aufgefasst wird.
Hier wird also deutlich, dass Kiezdeutsch eine unheimliche Dynamik in der Entwicklung von neuen, aus der deutschen Sprache heraus gebildeten Grammatikstrukturen besitzt und demnach keine „schlechte“, sondern eine höchst innovative Sprache ist.
Dieser Blogeintrag fasst nicht nur meine, sondern vor allem die Ergebnisse und Gedanken von Prof. Dr. Heike Wiese zusammen, deren Buch „Kiezdeutsch. Ein neuer Dialekt entsteht“ neue Perspektiven auf Jugendsprachen im Allgemeinen und auf Kiezdeutsch im Besonderen wirft.
Hier finden Sie einen weiteren interessanten Blogbeitrag: Der Dativ ist dem Sprecher eine Hilfe.
Titelbild: gratisography.com
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