Letztens postete eine Freundin auf Facebook folgenden Status: „Gibt es den eigentlich keinen Anstand mehr?“ Darauf antwortete ihr Facebook-Freund Andi: „Gibt es denn eigentlich keine Rechtschreibung mehr?“, und erntete dafür einige Schulterklopfer in Form von Likes. Warum eigentlich, hat er doch überhaupt keinen Bezug auf die inhaltliche, wenn auch rhetorische Frage genommen?
Während sich der Großteil der Mittelschicht der ungerechten Bildungschancen bewusst ist, sich pro Flüchtlinge ausspricht und auch anderweitig sozial gepolt ist oder zumindest den Anschein erwecken möchte, beweihräuchert er sich beim Thema Orthographie und Grammatik mit purer Arroganz selbst. So gibt es nicht wenige in meinem Freundeskreis, die schlechte Orthographiekenntnisse schlichtweg als No-Go bei anbahnenden Dates bewerten – egal, wie gut einem das Gegenüber gefällt. Doch wird ein Unterschied gemacht: Waren es schlichtweg Flüchtigkeitsfehler, drückt man ein Auge zu. Alles andere gilt als Indiz für mangelnde Intelligenz.
Und auch bei zunächst sachlichen Diskussionen in Foren oder Facebook-Threads wird irgendwann die Orthographiekeule ausgepackt: „Lern erst mal korrekte Rechtschreibung, bevor du solche Behauptungen aufstellst!“ (Nicht selten stolpert der Ankläger dabei selbst über Orthographie oder Grammatik). Mit diesem Totschlagargument fühlt sich der Ankläger jedoch erhaben über jegliche Diskussion und wird – gerade bei der Korrektur einer bildungsbürgerfremden Meinung – von der Community gefeiert, denn: Mit jemandem ernsthaft zu diskutieren, der nicht einmal richtig schreiben kann, ist für das Bildungsbürgertum reine Zeitverschwendung getreu dem Motto: Nur wer schreiben kann, hat Recht auf Meinung. War es früher die Beherrschung der Schriftsprache und des Lesens an sich, was Distinktion innerhalb der Gesellschaft schuf, so mutierte die Rechtschreibung zum neuen Statussymbol des Bildungsbürgertums. Wir gehen sogar so weit, dass es nicht nur korrekte, sondern bitte auch stilsichere Grammatik sein soll („Hihi, Doro’s Frisörladen, wenn die genauso Haare schneidet, wie sie schreibt, na, dann gute Nacht!“). Nur bei Kommafehlern lassen wir Nachsicht walten, denn was wir selbst nicht können, erwarten wir ja auch nicht von anderen.
Dank Facebook, Twitter, Whatsapp und Co. ist geschriebene Sprache so omnipräsent wie noch nie. Doch während ein Brief, ein redaktioneller Artikel oder Kommunikation im Beruf gesellschaftsbedingt stets der Etikette einer korrekten Orthographie bedürfen, ist das in den sozialen Netzwerken nicht klar: Auf der einen Seite bewegt sich ein Facebook-Nutzer auf öffentlichem Terrain, auf der anderen Seite kommuniziert er mit seiner Peer-Group. Und mit der sprechen wir salopper und verwenden neudeutsche Konstruktionen, die wir gegenüber unseren Vorgesetzten tunlichst vermeiden würden. Konsequente Kleinschreibung ist geduldet, Abkürzungen wie „LOL“ Standard und Smileys neues Mittel, um Emotionen und Ironie kurz und knapp, dafür leicht verständlich abzubilden. Eine Etikette für Rechtschreibung auf Facebook gibt es nicht: Die einen schreiben konsequenterweise richtig, die anderen schreiben, wie sie reden, der nächste legt sich nicht fest.
Warum also feiert ein jeder sich selbst, wenn er wie Andi auf einen Rechtschreibfehler aufmerksam wird und öffentlich darauf hinweisen kann? Weil die Beherrschung der Orthographie ein gesellschaftliches Distinktionsmerkmal ist, mit Intelligenz verwechselt wird und weil Selbstdarstellung nirgendwo weniger geächtet ist als auf Facebook.
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Und ja, auch ich finde manche Rechtschreibfehler lustig. Aber es stünde mir fern, gezielt Einzelpersonen zu diffamieren. Denn wir alle sind vor Rechtschreibfehlern nicht gefeit, wie diese Liste zeigt: 16 häufige Rechtschreibfehler, die uns häufig unterlaufen, ohne dass wir es bemerken.
Der Sprachschach-Autor Martin Stäbe ist bei dieser Thematik ganz anderer Meinung: Richtige Rechtschreibung online – vier Gründe, warum sie sexy ist!
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