Geographisch sind Deutschland und Frankreich nur durch den Rhein getrennt, doch in Sachen Sprachpolitik trennen beide Nationen Welten. In Frankreich ist die Sprache ein „Hauptmerkmal der nationalen Identität“ und wird gepflegt und durch Gesetze geschützt. Die Sprache ist – im Gegensatz zu Deutschland – sogar in der Verfassung verankert (La langue de la République est le français. Die Sprache der Republik ist Französisch). Außerdem lernt der Nachwuchs in den Schulen der Republik seit Jahrzehnten, dass Französisch die „schönste, reinste und klarste“ aller Sprachen sei. Dieses staatlich verordnete Ego-Boosting hat zu einem besonderen Verhältnis der Franzosen mit ihrer Muttersprache geführt. Nachfolgend nenne ich sechs Beispiele für Sprachpolitik à la française, die von Deutschen häufig nur spöttisch belächelt werden oder gar Kritik hervorrufen.
1.) Die Academie française und der gute Sprachgebrauch
In Frankreich wird die Vereinheitlichung und Pflege der französischen Sprache seit 1631 offiziell von der Académie française wahrgenommen. Mitglieder der Akademie sind Politiker, Linguisten, Schriftsteller, Historiker und Philosophen – die Mitgliedschaft ist eine „unkündbare Würde“. Die staatliche Institution unter der Schirmherrschaft des Staatspräsidenten gibt in Frankreich den guten und richtigen Sprachgebrauch vor („bon usage“), der sich allerdings deutlich vom alltäglichen Sprachgebrauch („usage“) unterscheidet. Die offiziell zugelassenen Wörter stehen im von der Akademie herausgegebenen, normativen Wörterbuch („Dictionnaire de l’Académie Française“). Dieses weicht stark von Standardwörterbüchern wie dem „Petit Larousse“ oder dem „Petit Robert“ ab, die mit der modernen Sprachentwicklung Schritt halten. Neologismen werden in das altehrwürdige Wörterbuch nur unter zwei Bedingungen aufgenommen: Sie sind im Sprachgebrauch fest verankert und es gibt für das neue fremde Wort im Französischen kein Äquivalent. Die Empfehlungen der Akademie sind für die Sprachteilnehmer jedoch nicht bindend, lediglich Behörden müssen dem Sprachdiktat von oben Folge leisten.
2.) Staatliche Terminologiekommissionen
Mitmischen tut die Akademie auch bei den staatlichen Terminologiekommissionen. Big Data? Nein, in Frankreich hat es „megadonnées“ zu heißen. Das ist der Wille einer der Arbeitsgruppen, die regelmäßig Listen mit Neuschöpfungen im „Journal Officiel“, dem französischen Gesetzblatt, veröffentlicht. Ihr Ziel ist es, der Erweiterung und Bereicherung der französischen Sprache zu dienen und offizielle Ersatzwörter für Anglizismen zu finden. Das Besondere dabei: Staatliche Stellen sind verpflichtet, diese neuen Wörter im Behördenalltag zu verwenden. Ähnliches gilt in Deutschland lediglich für die amtliche Rechtschreibung. Während Wörter wie „logiciel“ für Software oder „ordinateur“ für Computer es in die Allgemeinsprache geschafft haben, war „vacancelle“ für „week-end“ kein Erfolg beschieden. Doch Frankreich scheint den Sprachpurismus mittlerweile aufgegeben zu haben, wie jüngste Äußerungen der französischen Kulturminsterin Fleur Pellerin nahelegen. Die in Seoul geborene Ministerin sieht englische Neuwörter nicht mehr als Eindringlinge, sondern als Bereicherung für die eigene Sprache an.
Auch in Deutschland gab und gibt es Kritik gegen Fremdwörter, wenngleich diese medial nicht dieses Echo erhält wie in Frankreich. Vorgetragen wird sie vornehmlich von einzelnen Politikern sowie Sprachvereinen und -gesellschaften, die sich die Pflege der deutschen Sprache auf ihre Fahne geschrieben haben. Der „Verein Deutsche Sprache“ führt sogar einen eigenen Anglizismenindex mit derzeit rund 7.500 Einträgen, in dem für zahllose Anglizismen geeignete Ersatzwörter angeboten werden. 2013 kürte der Verein den Duden wegen Aufnahme lächerlicher Angeber-Anglizismen zum „Sprachpanscher“ des Jahres. Aber die Autorität der Organisationen ist nicht staatlich gestützt und daher wissen wohl auch nur die wenigsten, dass man statt Airbag auch Prallkissen sagen kann. Doch selbst wenn der Verein in der Öffentlichkeit stärkeres Gehör finden würde, es würde wohl nichts nützen. Vor vielen Jahren konstatierte Thomas Thiel auf FAZ.net: „Es herrscht nicht nur ein Wissensdefizit über andere Möglichkeiten, sondern auch eine gewisse Skepsis gegenüber der Coolness und Leistungsfähigkeit der eigenen Sprache“.
3.) Sprachschutzgesetz „Loi Toubon“
In Frankreich existiert ein Sprachschutzgesetz („Loi Toubon“), das den Gebrauch des Französischen in der TV- und Radio-Werbung, im Arbeitsrecht, bei Veranstaltungen oder Kongressen und im Unterricht vorschreibt. Radiosender sind zudem verpflichtet, mindestens 40 % inländische Musik zu spielen. Zwar dürfen in der Werbung auch ausländische (zumeist englische) Lehnwörter verwendet werden, diese müssen aber auf Französisch übersetzt werden. Unternehmen, die gegen dieses Gesetz verstoßen, begehen eine Ordnungswidrigkeit und müssen mit einer hohen Geldstrafe rechnen. Diese Vorschriften zum Schutz des französischen Verbrauchers und zur Förderung der Vielsprachigkeit sind teilweise sogar nachvollziehbar, wenn man an ältere Personen denkt oder Menschen, die keine Fremdsprache sprechen. Denn wieso kann man statt „fragrance“ nicht „Duft“ sagen oder „moisturizer“ mit „Feuchtigkeitsspender“ übersetzen? Tatsächlich wird man heute in der Werbung von Anglizismen nur so überrollt, nicht nur in Deutschland. Erst kürzlich hat mein Freund Jacques gemeint, in Frankreich seien englische Begriffe in TV-Spots sehr dominant. Ursprünglich wollte man sogar den Gebrauch von Anglizismen, für die offizielle Ersatzwörter geschaffen worden waren, nicht nur öffentlichen Personen verbieten, sondern auch Privatpersonen. Das Verfassungsgericht schob dem aber einen Riegel vor.
4.) Politiker und die rechte Schreibung
In Frankreich werden Personen des öffentlichen Lebens von den Medien und der Öffentlichkeit aufmerksam beobachtet, was deren schriftliche oder verbale Äußerungen angeht. Rechtschreib- und Grammatik-Fehler eines Politikers bis hinauf zum Staatspräsidenten sind Gegenstand lebhafter Diskussionen. Gutes Französisch zu sprechen und zu schreiben gehört in Frankreich zum guten Ton – und das obwohl sich die Rechtschreibfähigkeiten der Franzosen im Laufe der Jahre verschlechtert haben. 1999 titelte der „Nouvel Observateur“: Peut-on faire de la politique avec des fautes d’orthographe? Und präsentierte eine Zusammenstellung der peinlichsten Politikeräußerungen aus sprachlicher Sicht. Vor kurzem unterzog „Le Journal du Dimanche“ 17 Abgeordnete der Nationalversammlung gar einem Orthographie- und Grammatiktest. Tatsächlich werden einem in Frankreich Schwächen beim Dreisatz eher verziehen als Wissenslücken bei der regelkonformen Anwendung des Französischen. „La France est ultrasensible aux fautes d’orthographe“, stellte Aurélie Collas in der Zeitung „Le Monde“ fest. Auf gut Deutsch: „In Frankreich reagiert man auf Orthographiefehler ultrasensibel“.
Hierzulande ist die Rechtschreibung – abgesehen von den Debatten um die Rechtschreibreform – kein großes Thema. Lediglich ein mit Fehlern gespickter Brief der rheinland-pfälzischen Ministerpräsidentin Malu Dreyer an Bundeskanzlerin Angela Merkel schaffte es zu größerer Bekanntheit.
5.) Nationale Diktatwettbewerbe
Ein durchaus nachahmenswertes Beispiel französischer Sprachpflege ist das seit 1985 alljährlich stattfindende nationale Diktat, an dem vom Schüler bis zum Rentner, vom Lehrer bis zum Schauspieler jeder teilnehmen kann. In einer Vorausscheidung werden die besten Französischkenner jeder Region ermittelt, ehe in Paris schließlich das große Finale stattfindet. Das Diktat soll so schwer sein, dass selbst gestandene Uni-Professoren es nicht ohne Fehler schaffen. Die Rechtschreib-Champions werden schließlich im Rahmen einer großen Feier, die sogar im Fernsehen übertragen wird, geehrt. Auch wenn die Popularität seit dem Abtreten des französischen Sprachpapstes Bernard Pivot 2005 etwas abgenommen hat, Diktate-Helden werden in Frankreich immer noch gekürt. Denn Faszination für Sprache und Literatur ist laut Sprachwissenschaftler Jacques Demougin „eine französische Obsession“, ebenso wie intellektuelle Wettbewerbe.
Korrekte Rechtschreibung und Interpunktion als abendfüllendes Ereignis? Kennt man in Deutschland aktuell nicht, da „das Diktat im Deutschen einen Nebengeschmack hat“. Denn wer möchte schon, dass sich bei einem Diktat herausstellt, dass man doch nicht so sattelfest in der deutschen Sprache unterwegs ist.
In Hessen zumindest hat man sich vom französischen Vorbild inspirieren lassen und veranstaltet auf lokaler Ebene Diktatwettbewerbe, z. B. „Frankfurt schreibt!“, die sich vor allem an Schüler der Oberstufe von Gymnasien richten. Wenn Sie ernsthaft über eine Teilnahme am großen Diktat nachdenken, empfehle ich vorab die Lektüre des folgenden Artikels: „Häufige Rechtschreibfehler: Was wir unbemerkt falsch schreiben“. Damit sind Sie dann fürs Diktat bestens gerüstet.
Kleine Anekdote am Rande: Ich erinnere mich, dass es während meines Studiums in Frankreich 2006 im Fach Sozialrecht in der Klausur sogar Punktabzüge für Rechtschreibfehler gab. Heute scheint man da etwas milder geworden zu sein. Aus guten Gründen.
6.) Unternehmen, die ihre Mitarbeiter zu Rechtschreibkursen anmelden
Eine gute Beherrschung der Muttersprache in Wort und Schrift sollte man von einem Bewerber, der das französische Schul- und Universitätssystem erfolgreich durchlaufen hat, eigentlich erwarten können. Pustekuchen! Französische Studenten stehen mit ihrer eigenen Sprache zunehmend auf Kriegsfuß. Seit Jahren schon sind Frankreichs Personalchefs deswegen in Sorge, da Sprachfehler mit mangelnder Sorgfalt und Unzuverlässigkeit assoziiert werden und so nicht nur schlecht für die Außendarstellung, sondern auch für die Umsatzzahlen sind. Sie schicken ihre Mitarbeiter daher in Rechtschreibkurse oder melden Sie auf Plattformen wie Orthodidacte.com an, wo sie auf spielerische Weise ihr Französisch verbessern können. Darunter sind auch Großbetriebe wie die französische Bahn, der staatliche Energieversorger EDF oder das bekannte E-Commerce-Unternehmen „Ventes Privées“. Mit dem „Voltaire Zertifikat“ für Rechtschreibung kann man in Frankreich übrigens ähnlich wie bei einem TOELC-Test seinen Kenntnisstand in puncto Rechtschreibung in der Bewerbung nachweisen.
Und in Deutschland? Hier scheint das ein Detail zu sein, wenngleich deutsche Personaler schlampige Fehler im Bewerbungsschreiben oder im Lebenslauf ebenfalls ahnden. Natürlich werden auch in deutschen (Groß-)Unternehmen Mitarbeiter in Rechtschreibung und Grammatik geschult – vor allem wenn sie Kundenkontakt haben. Aber hier würde keine Zeitung groß darüber berichten. In Frankreich ist so etwas halt von nationalem Interesse.
Fazit
Sprachpflege als Förderung des korrekten Sprachgebrauchs im Sinne der Beachtung der geltenden Sprachnormen hat in Frankreich eine lange Tradition. Nicht so in Deutschland, das als Nationalstaat erst seit dem 19. Jahrhundert existiert. Bei unseren Nachbarn wird die eigene Sprache als „das entscheidende Medium zum Transport der französischen Kultur“ gesehen, wohingegen in Deutschland „denglische“ Begriffe laut dem Historiker Ansbert Baumann eher als schick gelten. Diskussionen um die deutsche Sprache werden zwar auch bei uns geführt, wobei hier anstelle des Staates private Vereine eine wesentliche Rolle spielen. Aus dieser Ecke kamen und kommen denn auch Forderungen nach einem Gesetz zum Schutz der deutschen Sprache nach dem Vorbild Frankreichs.
Die Inflexibilität und mangelnde Offenheit des Französischen gegenüber Entlehnungen aus anderen Sprachen erwies sich jedoch als kontraproduktiv, so dass in der französischen Sprachpolitik ein Umdenken stattgefunden hat. Um eine größere Akzeptanz zu erreichen (dass sich der Franzose in der Praxis seiner vielgelobten Sprache nicht immer so bedient, wie es sein sollte, ist ein Fakt), sucht man schon seit Langem auch vermehrt den Dialog mit der Bevölkerung. So kann auf der Seite „WikiLF“ jeder Franzose selbst Vorschläge für französische Ersatzwörter liefern. Doch die von der französischen Kulturministerin Fleur Pellerin jüngst getätigten Aussagen zeigen auch, dass sich die Entwicklung einer Sprache nur in begrenztem Maß durch Vorschriften und Verbote steuern lässt.
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