Vor einiger Zeit habe ich mich auf Sprachschach als Verfechter korrekter Orthographie und Grammatik gezeigt. Doch wann sind Ausnahmen erlaubt, wann kann man den Duden auch mal aus der Hand legen und auf Rechtschreibung & Co. pfeifen? In diesem Beitrag möchte ich vier Situationen vorstellen, in denen mich mangelnde Regeltreue nicht auf die Palme bringt, sondern mich im Gegenteil manchmal sogar schmunzeln lässt.
Ich begrüße Sprachfehler, wenn:
1. Die Persönlichkeit eines Webauftritts sonst flöten ginge
Du kannst fundiert recherchierte und hochwertige Beiträge für einen Blog schreiben, der auch optisch zu glänzen weiß und dennoch bei der Zielgruppe erfolglos bleiben. Der Grund: Die Beiträge sind so glatt und unpersönlich, dass es keinen Spaß macht, sie zu lesen. Nicht dem Autor fliegen die Herzen zu, der ein sprachlich perfektes, fehlerloses Content-Stück abliefert, sondern jenem, der uns mit seiner Leidenschaft für ein Thema fesselt.
Vielen Blogbeiträgen fehlt es schlicht an Persönlichkeit. Um den eigenen Beiträgen ein Gesicht zu verleihen, gibt es einige Möglichkeiten. Ein Rat lautet: Schreibe so, wie dir der Schnabel gewachsen ist – auch auf die Gefahr hin, dadurch den einen oder anderen Fehler zu produzieren. Kleinere Sprachfehler können in gewissen Situationen zur Natürlichkeit eines Textes beitragen, sofern die allgemeine Verständlichkeit gewahrt bleibt.
Das Gesagte möchte ich gerne an einem Beispiel veranschaulichen. Als Frankreich-Fan bin ich den kulinarischen Gaumenfreunden unseres Nachbarlandes sehr zugetan und versuche mich seit kurzem selbst an der französischen Küche (das Ergebnis seht ihr hier und hier). Inspiration für meine Kochexperimente finde ich auf Rezeptseiten wie franzoesischkochen.de. Mein Lieblings-Foodblog wird von der seit 2006 in Deutschland lebenden Lothringerin Aurélie Bastian mit viel Liebe gepflegt. Mittlerweile spricht die auch im Fernsehen auftretende Französin gutes Deutsch. Doch der unverwechselbare französische Akzent, der in Deutschland spätestens seit den Auftritten von „Madame Nathalie“ in der Harald-Schmidt-Show in den späten 1990er Jahren sexy ist, ist auch in der Schriftsprache geblieben. Der Sprach- und Lesefluss wird dadurch allerdings überhaupt nicht gestört.
Mit Mut zur eigenen Persönlichkeit und ihrem unbekümmerten Schreibstil erreicht die Französin weitaus mehr Leser, als wenn sie einen Korrektor beauftragen würde, jedem Genusfehler und Buchstabenverdreher den Garaus zu machen. Das würde den Blog wohl einiges an Sympathiepunkten kosten. Solange es durch sprachliche Missverständnisse zu keinem Malheur in der Küche kommt, fallen mir Rechtschreibfehler in diesem Fall nicht negativ auf. Denn wie schreibt die erfahrene Bloggerin Meike Leopold in ihrem Buch „Corporate Blogs – Praxistipps für Strategie, Inhalt und Ziele“: „Blog-Beiträge leben von ihrer Lebendigkeit, ihrem Charme und ihrer Authentizität.“
2. Ironie am Werk ist
Fast jeder kennt sie – die scheinbar tiefgründigen Sinnsprüche wie „In schlechten Zeiten erkennst du deine wahren Freunde“ auf mit Filtern bearbeiteten, schnulzigen Fotos, die unsere Timelines in den sozialen Netzwerken Tag für Tag fluten. Neulich ist nun einer Bekannten auf Facebook die Hutschnur geplatzt. An die Verfasser gewandt, brach es aus ihr heraus: „Warum macht ihr euch die Mühe, ein Bild und eine passende Schriftart auszusuchen, denkt euch die ganzen Weisheiten aus und dann kontrolliert keiner Grammatik, Satzzeichen und Rechtschreibung.“
Vielleicht hätte ich die Bekannte auf die Facebook-Seite „Nachdenkliche Sprüche mit Bilder“ hinweisen sollen. Dann hätte sie wenigstens noch etwas zu schmunzeln gehabt. Die Seite „Nachdenkliche Sprüche mit Bilder“ nutzt Rechtschreibfehler als ironisches Stilmittel, um besagte Kalendersprüche zu parodieren. Beispiel gefällig?
Das Konzept der Macher kommt an, über 100.000 Fans zählt die im letzten Jahr gestartete Seite mittlerweile – darunter auch TV-Promis wie Jahn Böhmermann. Aber darf man das? Darf man sich über Menschen lustig machen, die (naive) Alltagsweisheiten posten und ihre ganz eigene Art zu schreiben pflegen?
Oder hat es nicht auch etwas Befreiendes, so zu reden, dass sich dem Deutschlehrer die Nackenhaare aufstellen? Ist das „Orthographie-Massaker“ gar ein „Fack ju an die Kontrollgesellschaft?“ wie Linus Volkmann auf vice.com vermutet. Schlechtes Deutsch in Foren und sozialen Netzwerken ist ja schließlich nicht erst seit gestern cool und „ein zu verteidigendes Privileg von Jugend und Subkulturen“, so Volkmann weiter.
3. Werbung etwas Originelles erschafft
Neulich ist mir am Münchner Hauptbahnhof ein Werbeaufsteller des mittlerweile in ganz Deutschland bekannten Sylter Fischrestaurants „Gosch“ aufgefallen. „Heute schon gegoscht?“ stand auf dem Aufsteller. Das Wort „gegoscht“ war mir neu, auch der Duden konnte nicht weiterhelfen. Doch die Bedeutung des Slogans erschloss sich mir aus dem Zusammenhang. Das Unternehmen hält seinen Namen für so bedeutsam, dass es daraus ein allgemeingültiges Verb kreiert hat und die deutsche Sprache bereichern möchte.
Werbung hat zum Ziel, größtmögliche Aufmerksamkeit zu erregen. Aufmerksamkeit kann man erregen, indem man gezielt Normen bricht oder eben neue Wörter aus der Taufe hebt. Ob es um das Koppeln ohne Bindestrich, um Modalverben ohne Infinitivergänzung oder um handfeste Grammatikfehler geht: Die Werbebranche nimmt sich einige Freiheiten heraus. Dabei teile ich die Ansicht von Dr. Annika Lamer, die absichtliche Regelbrüche in der Werbung toleriert, solange sie „einen Mehrwert bieten und noch besser, einen Witz hineinbringen.“ Als Beispiel nennt sie den bekannten Werbeslogan von Milka: „Je zarter die Milka, desto lila die Pause.“
(Absichtliche) Schreibfehler haben zudem einigen Marken schon zu unverhofftem Erfolg verholfen. Sie bleiben nicht nur länger im Gedächtnis, sondern steigern auch die Interaktionsrate. Denn jeder will gern besserwisserisch seinen Senf dazugeben und ein bisschen hämisch lachen dürfen (die Netzgemeinde liebt Grammatikfails). Dummes Marketing entpuppt sich in manchen Situationen also als echte „Engagement-Geheimwaffe“.
4. Der Inhalt sonst ins Hintertreffen geraten würde
Ja, ich geb’s zu. Auch ich kann in Sachen Rechtschreibung und Grammatik ein Korinthenkacker sein. Doch der Wille zur sprachlichen Perfektion bringt Stress mit sich und kann lähmen, sodass schnell die Inhalte ins Hintertreffen geraten. „The worry you invest in grammar is energy diverted away from the meat of the writing“, bringt die Seite writersdigest.com das Problem auf den Punkt. Die Sprachwissenschaftlerin Juliana Goschler von der Universität Oldenburg bevorzugt in einem Beitrag für den Autorenblog „Carta“ bei der Textproduktion eine kreativ-gewagte gegenüber einer konservativ-ängstlichen Schreibtaktik. Denn: „Was gesagt bzw. geschrieben wird, ist ebenso wichtig wie die Frage, ob das Gesagte in orthographisch korrekter Form aufs Papier gebracht wurde.“
Doch leider wird in Diskussionen online oft gleich die Orthographiekeule geschwungen, was eine sachliche Diskussion zum Thema praktisch unmöglich macht. Da heißt es nicht: Das liest sich gut, der schreibt toll, das hat er schön gesagt, sondern: „Die Gute hat Realschule und Gymnasium absolviert und studiert jetzt, kann aber immer noch kein Deutsch?“ Verdammt peinlich? Verdammt peinlich sicher auch für den Autor des Kommentars.
Wichtig ist meines Erachtens, ob jemand was zu sagen hat, eine Story erzählen kann. Denn auch Menschen, die die rechte Schreibung im Deutschen nicht so gepaukt haben wie ich vor fast 30 Jahren, bringen interessante Gedanken zu Papier. Umgekehrt gibt es nicht wenige, die im Diktat immer eine Eins hatten, aber mit ihrer Schreibe niemanden vom Hocker reißen. Denn gegen Orthographie- und Grammatikfehler ist dank Rechtschreibprogrammen ein Kraut gewachsen, mangelnde inhaltliche Tiefe hingegen lässt sich nicht so leicht ausmerzen.
Der Siegener Germanistik-Professor, Wolfgang Steinig, hat vor einigen Jahren den Wandel des schriftlichen Ausdrucks von Schülern über die Zeit untersucht. In der nicht repräsentativen Studie verglich er Schulaufsätze aus drei Jahrzehnten. Das Ergebnis: Die Kinder machten zwar mehr Fehler, allerdings schrieben sie längere Texte und waren kreativer und phantasievoller.
Fazit
Die deutsche Sprache hat ihre Tücken. Es gibt kaum einen Artikel, bei dem ich nicht selbst mehrmals den Duden konsultieren müsste, um auf Nummer sicher zu gehen. Rechtschreibfehler lassen sich nie ganz vermeiden und Tippfehler sind im Eifer des Gefechts heute schneller passiert als früher. Ich bin der Ansicht, dass korrekte Rechtschreibung im Berufsalltag ein Muss und im privaten Bereich ein Gebot der Höflichkeit ist. Allerdings können (absichtliche) Fehler auch ihren Reiz haben, uns zum Lachen bringen und zum Nachdenken anregen, wie ich in diesem Beitrag versucht habe darzustellen. Letztlich geht es darum, wie gut man sich in verschiedenen sozialen Gruppen miteinander unterhalten kann. Kleinere Sprachfehler sind erlaubt, wenn es die Kommunikation nicht stört. Eine neue Debatte über „Obergrenzen“ möchte ich mit diesem Beitrag keinesfalls anstoßen – und ist auch sinnlos.
Und wie seht ihr meine provokante These? Könnt ihr euch mit meinen Argumenten identifizieren? Welchen Wert hat Rechtschreibung für euch? Ich freue mich auf eure Kommentare im Anschluss an diesen Artikel
Bild: Karoline Zanke
12 Kommentare